In meiner Berliner Kindheit gab es Fasching bis ich zehn war. Ich hatte nie ein gekauftes, sondern ein handgemachtes Kostüm, das war meiner Mutter immer sehr wichtig – schillernde Individualität. Später gab es kaum noch einen sichtbaren Unterschied zu einer Neujahrsfeier, immer Sekt und Pfannkuchen, jeder hatte sich einen Zylinder aufgesetzt und glitzerte. Aber dafür hatten wir die Love Parade, die Gay Parade, die Hanf Parade und den Karneval der Kulturen. Viele sind zum Karneval immer nach Köln gepilgert, um in dem befreienden Chaos einfach dazu zu gehören. Das urbane Köln war offener, unkomplizierter, herzlicher. Und der Karneval war gelebtes Statement – Masken braucht hier eigentlich keiner, um anderen näher zu kommen. Aber das reizt mich einfach nicht.
Kultureller Außenseiter
Als ich zu Semesterbeginn in das katholische Südbaden zog, hatte ich eine Begegnung der anderen Art. Ich wollte nur einkaufen gehen und geriet mitten in einen Fastnachtsumzug. Einfach jeder war verkleidet – außer mir. Fastnacht ist ja auch nichts, wozu man sich entscheidet. Fastnacht beginnt, wenn man mit seiner Umgebung eins ist – oder gar nicht.
Narri Narro – mein erstes Mal
Der Berlinerin war es nicht wichtig, dazuzugehören und den Studenten “grad’ z’ Leid“ (sowieso) nicht. Aber den Kommilitonen aus der Gegend, die mitten in der Nacht fast salutierend das Badnerlied sangen, doch. Fasnet, da kommt man nicht drum rum. Wenn ein paar Menschen in einer Stadt aufeinandersitzen, dann kann man entweder etwas zusammen machen oder nicht. So bildet sich Gesellschaft. Und tatsächlich verspürte ich zum ersten Mal so etwas wie Wehmut. Das ist wohl Heimat.
Mein erster Fasnetumzug versetzte mich in ein Wechselbad aus Schauer und Begeisterung. Alle waren als Hexen verkleidet, retschten oder peitschten auf den Boden. Die traditionellen Masken aus Holz mit ihren Fratzen waren irgendwie exotisch – geografisch und zeitlich ganz weit weg. Doch wirksam wurde die Maske erst im Spiel. Die Gestalten bewegten sich im Wechsel, mal sehr langsam, mal rannten sie ganz nah auf mich zu, um mich zu beäugen. Diese Masken zu durchdringen gelang nicht, man erkannte nicht einmal Mann oder Frau und ich schreckte zurück vor dieser Autorität, die mich anblickte, ohne dass ich zurückblicken konnte. Dann aber, wenn man nicht aufpasst, schnappen sie dich, reiben dich mit Konfetti ein, klauen dir deine Schnürsenkel, stempeln deinen Bauch und entführen dich, sperren dich in einen Käfig. So viel Direktheit hatte ich nicht erwartet. Und die ganze Stadt verließ ihre Häuser, wenn der Zug durchkam. Sie brauchten nichts zu tun. Denn die Hexen hatten die Aufgabe, das Publikum zu bewegen, den Wechsel der Identitäten zu vollziehen und die Frage nach dem Echten zuzuspitzen.
Unserem Wesen nach sind wir Traumgespenster.
Und hin und wieder stehen wir uns nahe.
„Ich will das in mir Verborgene nach außen kehren, es deutlich auf meinem Gesicht zeigen … Karneval. Wo Maske und unterdrücktes Ich eins werden.“
(Die blaue Maske)
„Es ist als träumte ich. Nicht ich bin es, die die Entschlüsse faßt, sondern die Maske, losgelöst von mir begibt sie sich in Abenteuer.“
(Die blaue Maske)
Die Maske ist kein Mittel, um sich zu verstellen. Sie ist ein Mittel, um sich aus den Begrenzungen herauszuwagen, die einem durch Kindheit und Sozialisation auferlegt sind. Hier spürt man diese Grenzen und hier überwindet man sie. Diese 1000-jährige Tradition ist ein einziges riesiges Abenteuer, in dem man mit seinem Drachen kämpft. Der Drache heißt: Du sollst. Oder du sollst nicht. Das Unbewusste wird wieder bewusst, alle Träume und Wünsche, die man sonst nicht äußern und ausleben darf. An Fasnet werden sie wieder lebendig. Ich fühlte mich wie in der Traumnovelle.
„Das anziehende und abstoßende Mysterium der Maske, wer kann jemals seine Technik übermitteln, seine Motive erklären und das gebieterische Verlangen, sich zu verstellen, zu verkleiden, seine Identität zu wechseln, aufhören zu sein, was man ist, mit einem Wort, sich selbst zu entfliehen (…) logisch deduzieren?
Wo wird das Abenteuer enden? In einem Hotel garni oder im Hotel einer großen Demimondaine, oder bei der Polizei vielleicht, denn auch die Diebe verbergen sich, um ihre Anschläge durchzuführen, und mit ihren einladenden und schrecklichen, falschen Gesichtern haben die Masken ebenso etwas vom Halsabschneider wie vom Friedhof: Es ist etwas vom Freudenmädchen und etwas vom Gespenst in ihnen.“Histoires de Masques (Paris, 1900)
Das fasziniert mich. Je stärker die Grenzen, desto größer ist das Abenteuer. Unter der Maske wird man nicht identifiziert, nicht verurteilt. Man wird nicht verdinglicht, sondern als du, als Mensch betrachtet, der mehr ist, als die Gesellschaft ihm zugesteht. Demaskieren wäre ein Verbrechen. Das Verbergen ist die einzige Wahrheit.
Am Ende wird die Fasnet verbrannt.
„Ihr liebe Lit, ich will ’s euch sage, mir were jetz’ d’ Fasnet zu Grabe trage“
Und alle heulen in ihren schwarzen Kleidern.
Ob wir bei playin’siegen auch mit Masken spielen? Wer weiß …
„Doch jetz’ isch Schluss, d’ Fasnet z’ End, ihr wer’ es gli sehne, wenn de Bondle brennt. Die Fasnet, die war schön, doch auch sie muss mal zu Ende geh’n. Denn alles hat ä End’, nur die Wurscht hat zwei.“
Herzliche Grüße,
Jenny